Text-Nummer: 0157

Schaltung am: 04.12.96
Rubrik(en): Forschung und Wissenschaft
Umfang des Textes in Zeichen: 62325
Verfasser(in): Dirk Kohn
Originaltitel: Die Entstehung der Demokratie im klassischen Athen bis zur Zeit des Perikles
Copyright: Dirk Kohn

Dirk Kohn

Die Entstehung der Demokratie im klassischen Athen bis zur Zeit des Perikles

1. Einleitung

Wenn heute der Begriff Demokratie - also Volksherrschaft - Anwendung findet, wird oft übersehen, daß die Anfänge gut zweieinhalb Jahrtausende zurückliegen und der Ausgangspunkt Athen war. Natürlich ist die athenische Demokratie nicht zu vergleichen mit den uns heute geläufigen Formen. Es war im letzten Stadium eine direkte Demokratie, keine repräsentative. Auch durften beispielsweise weder Frauen, Metöken - also Zugewanderte ohne Rechte - noch Sklaven mitbestimmen. Dennoch muß festgehalten werden, daß in der Übergangsphase von archaischer (750-510) zu klassischer Zeit (510-323), also zwischen Ende des sechsten und Beginn des fünften vorchristlichen Jahrhunderts die dominierende Stellung des Adels weitgehend aufgelöst wurde, ein Zustand also, der im restlichen Europa zum Teil erst in diesem Jahrhundert erreicht wurde.
Wenn man sich diesen Umstand vor Augen führt, muß man die Frage stellen, warum gerade in Athen solch eine Entwicklung möglich war, warum sich die demokratische Verfassung immerhin etwa 150 Jahre hielt und durch welche Personen und Situationen sie getragen wurde. Auf diesen Fragenkomplex versuche ich, im folgenden eine Antwort zu finden.

2. Die Zeit vor dem Auftreten Solons

Staatsordnungen mit demokratischen Elementen gab es in Griechenland bereits seit 2000 v. Chr. Aber erst im Übergang von archaischer zu klassischer Zeit wurde dieses Staatswesen durch eine Reihe von Reformen ausgestaltet.
Seit den Anfängen des 7. Jahrhunderts geriet in den meisten griechischen Staaten die Adelswelt in Bedrängnis: Durch Übervölkerung und veränderte Kampfformen entstanden wirtschaftliche und militärische Schwierigkeiten, die auf die ärmere und abhängige Bevölkerung abgewälzt wurden. Viele der Bauern waren verschuldet. Da es möglich war, auf seinen Körper zu leihen, konnte ein Bauer bei Zahlungsunfähigkeit vom Gläubiger versklavt und sogar verkauft werden. Die Not schuf eine neue Bewußtseinslage der ärmeren Bevölkerung, die sich in mehreren Forderungen niederschlug: Neuaufteilung des Landes bzw. Erlaß der Schulden.(1)
In der näheren Umgebung gab es Staaten, in denen diese politischen und sozialen Spannungen in früherer Zeit zur Tyrannis geführt hatten. Auch in Athen wurden Versuche in diese Richtung unternommen, etwa 632, als der Adelige Kylon die labile Situation zu einem Staatsstreich nutzte. Der Versuch mißlang; Heuss betont:Athen war damals nicht reif für die Tyrannis.(2) Die Landbevölkerung gehorchte noch dem Adel und stützte dadurch die Abwehr.
Kurze Zeit später wurden aber gewisse Konzession gemacht, 624 kam es unter Drakon zur Kodifizierung von Teilen des bestehenden Rechts. Zu dieser Zeit waren Hunger und die Verschuldung der Bauern zwei herausragende Probleme. Um einen Bürgerkrieg zu verhindern, wurde Solon 594 zum Archonten gewählt und mit diktatorischen Vollmachten ausgestattet.

2.1. Die Situation zur Zeit Solons

2.1.1. Vorbereitung

Erst Solon begann damit, auch an die politische und die soziale Verfassung Hand anzulegen.
Er scheint der Schöpfer der inneren Ordnung Athens zu sein. Aber auch in seiner Person selbst wird deutlich, daß zwar die griechische Politik niemals unter die alleinige Herrschaft einer Autorität geriet, ihr aber dennoch - je nach Gelegenheit - einen beträchtlichen Einfluß einräumte.
Solon
war ein Mann der Rede und des Denkens. Ihm wurde später der Rang eines Weisen (Sophós)
zuerkannt, er studierte Homer und Hesiod, gerade letzteren schätzte er besonders. Aufgrund seiner literarischen Hinterlassenschaft läßt sich das Denken Solons erschließen. Er nimmt in seinen Elegien das damalige Athen mit all seinen Gebrechen aufs Korn. Er macht sich nicht die vorherrschende Lethargie zu eigen, daß alles so kommt, wie die Götter es wollen. Er wendet sich gegen die Maßlosigkeit des Einzelnen und sieht eine Katastrophe heraufziehen

Aufruhr, der Frevlern lieb ist, entbrennt, und die Feinde im Innern
Knebeln mit blut`ger Gewalt plötzlich die Stadt, die ihr liebt.
Solches Übel geht um im Volk; und Scharen Verarmter
Kommen, als Sklaven verkauft, heimatlos weit in die Welt,
Auch ist ihr Nacken gebeugt, und das Haupt durch schmachvolle Fesseln.
(3)

Er charakterisiert den vorherrschenden Zustand als schlechte, depravierte Ordnung, als Ungesetz (Dysnomie). Dieser stellt er den Zustand des Wohlgesetzes gegenüber, der Eunomie. Sie soll alle Unbill vom Volke nehmen, den Gesetzlosen Fesseln anlegen, Gelüste beschwichtigen, Übermut dämpfen, Aufruhr in die Knie zwingen usw.
Von heute auf morgen konnte er für seine Ansicht keine Resonanz finden, seine Freunde rieten ihm, den Weg der Gewalt zu gehen, doch Solon wollte davon nichts wissen. Er wollte, daß Staat und Gesellschaft aus sich heraus die Kraft zur Umbildung fanden. Seine Aufgabe war es, diesen inneren Prozeß zu steuern. Der Umfang der Umbildung machte größere Vorbereitungen notwendig. Heuss drückt es so aus: Gilt es, sich über sich selbst zu erheben, dann bedarf es einer Atmosphäre, die, von ursprünglichen sozialen Instinkten gespeist, das Wir in das aktuelle Empfinden rückt.(4)
Diese fand Solon in dem langen Hader mit der Nachbarstadt Megara um den Besitz der Insel Salamis. In seinen Elegien und Reden verstand es Solon, den Nerv der Massen zu treffen. Aus heutiger Sicht könnte man ihn als Populisten bezeichnen. Solon ließ keinen Zweifel daran, daß seine Politik sich in erster Linie an der Interessenlage der nichtprivilegierten Schichten orientierte und daß der Preis, der zu zahlen war, von den herrschenden Kreisen kommen mußte. Im Jahre 594 wurde er zum Archon mit außerordentlichen Vollmachten gewählt. Er war, wie keiner vor ihm, unbeschränkter Gesetzgeber. Während etwa Drakon zum größten Teil lediglich Gewohnheiten in fixierte Satzung umwandelte, war Solon in umfassender Weise auch gestaltend, was in seinen Reformen zum Ausdruck kommt.

2.1.2. Die Solonischen Reformen

1) Da er in den sozial-wirtschaftlichen Spannungen ein enorm revolutionäres Potential erkannte, lag sein Hauptaugenmerk auf deren Beseitigung. Solon hob das Guthaben der Reichen auf, die Armen gewannen ihr altes Eigentum ungeschmälert, also ohne die auf ihm liegenden Pfandsteine, zurück. Zusätzlich zu dieser berühmten Schuldenabschüttelung (seisáchteia) schränkte ein weiteres Gesetz jeglichen Bodenerwerb auf ein bestimmtes Maß ein. Die in die Fremde verkauften Athener wurden zurückgekauft und die Schuldknechtschaft der noch in Attika lebenden gelöst.
2) Die Freiheit wurde zum Bürgerrecht, das Eigentum wurde nicht angetastet und politische Rechte und Pflichten waren künftig nicht mehr an die Herkunft, d.h. an die Zugehörigkeit zum Adel, sondern an das Vermögen geknüpft. Hierzu wurden die Bürger Athens neu in vier Klassen (Tele) eingeteilt. Es wurden folgende Besitzklassen gebildet: Pintakosiomedimnoi (Fünfhundertscheffler), Hippeis (Reiter/reiche Grundbesitzer), Zeugiten (Hopliten(also Schwerbewaffnete)/mittlere Bauern und Handwerker) und Theten (Leichtbewaffnete/kleine Bauern und Handwerker, Lohnarbeiter). Als leitendes politisches System setzte er somit die timokratia (Herrschaft aufgrund von Zensus) durch, also die rein ökonomische Basierung der politischen Rechte. De facto wurde zwar mit den höchsten Rechten fast der alte Kreis bedacht, aber das Rittertum Kraft Geburt wurde abgeschafft und damit grundsätzlich jedem, auch dem Nichtadligen, die Möglichkeit gegeben, in diese Gruppe aufzusteigen. Die obersten Ämter (Archonten und Finanzverwalter) waren zwar noch den Fünfhundertschefflern vorbehalten, die übrigen aber standen auch den beiden anderen Klassen offen. Das neue Prinzip konnte leicht durchgesetzt werden. Da zu den wirtschaftlich starken Schichten in der Hauptsache der Geburtsadel gehörte, änderte sich zunächst recht wenig in der Verteilung der Macht. Während das passive Wahlrecht auf Bürger mit Vermögen begrenzt war, waren im Wahlkörper, also der Volksversammlung, wohl auch die Theten vertreten.
3) Der Schutz der Schwachen wurde durch die Popularklage im öffentlichen und privaten Strafrecht gewährleistet. Besonderheit war, daß jeder Bürger Anzeige erstatten konnte, auch wenn er nicht betroffen war. Solon führte dadurch gleichsam den Staatsanwalt ein. Die Durchsetzung des Rechts und der Gerechtigkeit wurde so als Sache aller Athener hingestellt und das Interesse der Athener mit dem Staatsinteresse gleichgesetzt. Zudem war die Einführung einer Berufungsinstanz gegen den Spruch des (auch jetzt noch immer) adligen (Schieds-)Richters von großem Gewicht.
4) Solon war es vorallem auch um die Bauernschaft bestellt. Durch die sog, Hoplitentechnik wurde die Militärpflicht auf die nichtadligen Athener ausgedehnt, so daß neben die adligen Ritter das mittlere Bauerntum unter der Bezeichnung Zeugiten trat. Neben diesen Vollmilitärpflichtigen standen die Theten, Leute ohne ordentlichen Grundbesitz, also Proletarier. Dadurch, daß der Krieg nun auf Gleichheit ausgerichtet war, führte dazu, daß das Bewußtsein von der politischen Einheit und Verantwortlichkeit gestärkt wurde. Die Athener waren plötzlich eine Masse. (5)
5) Viel gewichtiger für die Zukunft war die Verdrängung des Adelsrates (areopag) aus dem Zentrum der Politik. Nicht nur, daß die Archonten nicht mehr dem Adel angehören mußten, sondern er wurde durch die Bildung der sog. Volksversammlung (ekklesia) mit einem jährlich wechselnden Rates der 400 (boulé; 100 pro Phyle) an der Spitze, die die Beamten wählte, Beschlüsse faßte und Urteile fällte, weitgehend entmachtet. Zudem wurden dem Volk neue Einflußmöglichkeiten durch die Schaffung des Volksgerichts (heliaia) gegeben. Es wurde ein Einspruchsrecht gegen Schiedssprüche der Archonten (6) eingerichtet.
6) Ob das aktive Wahlrecht für alle drei Klassen bereits gleich war, ist umstritten.

Nach dem Ende seiner Amtstätigkeit soll sich Solon zehn Jahre auf Reisen begeben haben und lebte dann bis zu seinem Tode (559?) in Athen.

2.1.3. Historische Einordnung

Auch wenn die Solonischen Reformen Athens Verfassung noch nicht die unveränderliche Gestalt gaben, die als endgültige Grundlage seines Aufstiegs anzusehen sind, so waren sie gewiß mehr als ein Ausgangspunkt.

Der Weg mußte jetzt nicht zwangsläufig schon bis zur klassischen Demokratie führen, aber eine wichtige Weiche war gestellt. Dennoch: Heuss weißt auf folgendes hin: Solon freilich ist dafür nicht eigentlich verantwortlich zu machen. Nach unserer Kenntnis ist es in der griechischen Welt überall so zugegangen, auch da, wo das spätere attische Verfassungsideal nicht erreicht wurde. Offenbar lag hier von einem bestimmten Zeitpunkt an ein unvermeidlicher Trend, dem sich bezeichnenderweise nur Sparta zu entziehen vermochte. Wir wissen auch zufällig von einem Beispiel, das kurze Zeit vor Solon liegt (Chios), so daß die Unwahrscheinlichkeit seiner Originalität noch ausdrücklich bestätigt wird. (7)
Bis Solon hatte der Mensch das Gesetz als eine über ihm stehende Instanz anzuerkennen. Nun sollte die politische Ordnung vom Willen getragen werden und die Gesetze durch persönliches Handeln dazu gemacht werden. Viele Materien erblickten erst bei Solon als Recht des attischen Staates das Licht der Welt (z.B. Erbrecht), erst durch Solon entstand so etwas wie Staat oder Staatlichkeit. Solon verhinderte von Anfang an ein Aufeinanderprallen der Gegensätze. Zudem war das Adelsregime in Griechenland nicht stark genug, um einen solchen Druck wie etwa in Rom oder im europäischen Mittelalter auszuüben.
Das Klagerecht und die Klagepflicht jedes einzelnen Individuums zeigt Solons Auffassung von einer öffentlichen Gewalt, die allen zugänglich ist und jeden zum potentiellen Träger politischer Macht und staatlicher Aufgaben macht. Durch diese Umwandlung in ein Gemeinwesen machte die neue Ordnung die Individuen zu Bürgern. Durch diese Umwandlung entstand der Staat der Bürger oder, griechisch, die Polis der Politen. Solon wollte das unpolitische Volk nach dem Bild der bis dahin herrschenden Schicht formen. Im Gegensatz zum spartanischen Kasernenstaat stand die Vereinigungsfreiheit aufgrund der Solonischen Gesetze.
Trotz aller Reformen lag Solon lediglich die Versöhnung der zerstrittenen Gruppen am Herzen. Gleichheit war ihm, nach seinem ausdrücklichen Zeugnis kein politischer Wert, sondern eher ein Greuel.(8) Die gesamte Gesetzgebung Solons ist getragen von der Vorstellung der politischen Verantwortung des einzelnen für die Stadt. Gleichzeitig war die Ordnung verfügbar geworden.
Die Athener der entwickelten Demokratie sahen in Solon den Begründer des demokratischen Gedankens. In Zeiten, die den Anfängen noch näher standen, wurde - wohl realistischer - in Kleisthenes der Begründer der neuen Ordnung erkannt.(9) Denn, trotz aller Reformen, welche Solon einführte, sein Werk enthält keinen einzigen jener Grundsätze, auf denen die spätere Demokratie fußte, v.a. nicht den Gedanken der Gleichheit des politischen Rechts, nicht die Ausschaltung des Gruppeninteresses, nicht die Auflösung der starken Regierung zugunsten der Entscheidung aller usw.
Unter Solon wurde zwar der Herrschaft des Gesetzes zum Durchbruch verholfen, aber Grundlage war nach wie vor das timokratische Prinzip.
Solon
erlebte die Saat nicht mehr aufgehen. Sein Zukunftsbild konnte nur auf lange Sicht verwirklicht werden. Die Wurzel allen Übels lag wohl darin, daß sich das Volk in viele regionale Gruppen aufsplittern ließ. Es entbrannte ein Konkurrenzkampf der Adligen, die den Gang der Dinge sabotierten. Dies mußte zwangsläufig zur Tyrannis führen.

2.2. Die Tyrannis unter Peisistratos

Gemessen an dem Ziel der innenpolitischen Konsolidierung Athens sind Solons Reformen gescheitert.
Die konservativen Adligen, die noch dem alten Zustand anhingen, hielten sich an Lykurg. Megakles berief sich auf die Solonische Vermittlungspolitik und sammelte das Bauerntum der großen Küstenebene hinter sich, das arme Kleinbauerntum hielt sich an Peisistratos und hatten von Solon noch mehr erwartet.
Peisistratos
errang 561 zunächst die Macht, verlor sie aber 556 bereits wieder, weil sich seine beiden, zuvor verfeindeten, Rivalen plötzlich zusammenschlossen. Nach einem zweiten Zwischenspiel brachte erst der dritte Anlauf die eigentliche Herrschaft im Jahre 546. Diesmal wurde Athen mit Waffengewalt erobert und Peisistratos regierte rund zwanzig Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 527. Er bejahte durchaus bestimmte Grundgedanken der Solonischen Politik, setzte Waffengewalt nur in Ausnahmefällen ein und installierte in Athen eine Exekutive. Unter ihm wuchs die wirtschaftliche Produktionskraft beträchtlich. Nach Tyrannenart erhob er die politische Macht selbst zu einem ökonomischen Antriebsfaktor. Solon wollte den attischen Bürger schaffen, nun stützte das politische Desinteresse der breiten Massen die Tyrannis. Sie hatte sich letztlich vor allem aus den Kämpfen adliger Gruppen heraus etabliert.
Auch wenn es sich hauptsächlich um Maßnahmen zur Herrschaftssicherung handelte, so liegt dennoch die historische Bedeutung der Tyrannis des Peisistratos in der sozialen und ökonomischen Konsolidierung Athens. Seine bedeutendsten Leistungen in innenpolitischem Bereich waren: die offenbar gegen Reste der Adelsgerichtsbarkeit gezielte Einsetzung von lokalen Richtern sowie die großzügige Unterstützung der Kleinbauern durch Darlehen. Er rührte die formale Ordnung, wie sie Solon geschaffen hatte, nicht an; die Institutionen und Gesetze behielten ihre Gültigkeit. Die Entmachtung des Adels erzwang regelrecht die Bewahrung der politischen Ordnung Solons. Das Kernstück des solonischen Staatsgedankens, die politische Aktivität aller, wurde jedoch beseitigt. Eine beinahe revolutionäre Neuerung war die Einführung der Besteuerung aller grundbesitzenden Athener.
Peisistratos
ging es um die Stärkung des athenischen Selbstbewußtseins. Hierzu dienten die, bereits seit 566 durchgeführten Panathenäen, das größte und ehrwürdigste Staatsfest, sowie die Dionysien, eine Mischung aus Prozession, musischen Darstellungen, Komödie und Tragödie.
Das persönliche Regiment des Peisistratos, das den autonomen Gemeinwillen des Staates auf der einen Seite ersetzte, hat gleichsam auf der Rückseite seinen Teil dazu beigetragen, daß der politische Verband weiterhin an Gestalt gewann und seine Substanz sich mehrte. Die Herrschaft der beiden Söhne Hippias und Hipparch, die Peisistratos nach dessen Tod 528 oder 527 ablösten, setzte seine Linie fort, vielleicht waren sie in Einzelheiten sogar noch liberaler.
Nach der Ermordung Hipparchs 514 (es war ein Mißverständnis, Hipparch sollte eigentlich nicht Opfer werden), verschlechterte sich das politische Klima in Athen. Hippias, der sich bedroht fühlte, schlug einen strengeren Kurs ein. Es kam zu Verfolgungen und viele, meistens Angehörige adliger Familien, flohen. Der Gärungsprozeß im Innern war jedoch noch nicht so weit, die Tyrannis war (noch) nicht gefährdet. Doch im Jahr 510 wurde Hippias gestürzt.
Die Tyrannen führten sinnvolle Reformen durch und sie entmachteten die anderen adligen Herrscher, weshalb Aristoteles die Tyrannen als Wegbereiter der Demokratie bezeichnete. Peisistratos stützte den bedrohten Bauernstand, zentralisierte die Rechtsprechung und führte Steuern ein. Viele Athener blickten gern auf dieses goldene Zeitalter zurück. Die Blüte der Stadt geht laut Bleicken somit gerade auf das Fehlen des Politischen zurück: Die Athener waren nicht fähig gewesen, den von Solon geschaffenen Rahmen des Politischen in einem gemeinathenischen Sinne auszufüllen.(10)

2.3. Die Reformen des Kleisthenes

2.3.1. Der Aufstieg des Kleisthenes

Ein erster Versuch Kleisthenes`, die Tyrannis mit Waffengewalt und Unterstützung durch die geflohene Opposition zu stürzen, mißlang. Auch der zweite Versuch, mit Unterstützung durch eine kleine spartanische Freischärlergruppe, mißlang. Erst beim dritten Anlauf, den König Kleomenes selbst führte, wurde Athen 510 gegen freien Abzug der Peisistratiden befreit. Damit war die innenpolitische Lage jedoch keineswegs geklärt. Es entwickelte sich ein Machtkampf zwischen Kleisthenes einerseits sowie Isagoras - der eine Gruppe reaktionärer Ultras hinter sich sammelte und hinter Solon zurückwollte - und dessen Verbündeten Kleomenes. Kleisthenes wurde in einem offenen Bürgerkrieg zunächst zur Flucht gezwungen, kehrte dann aber zurück. Kleomenes und Isagoras wurden vertrieben, zahlreiche kollaborierende Athener zum Tode verurteilt.
Die erzwungene politische Enthaltsamkeit des Adels unter der Tyrannenherrschaft wirkte sich nun für die Restauration der Adelsordnung ungünstig aus. 50 Jahre waren die Athener ohne den Adel ausgekommen und im Zusammenhang mit dem erwachenden Bewußtsein einer politischen Einheit weckte den Wunsch nach einer politischen Organisation, in der der Adel keine Rolle mehr spielte.

2.3.2. Phylenreform

Die neue Phylenordnung ist die erste Repräsentativverfassung der Welt auf lokaler Ebene!
Der Grundgedanke des Kleisthenes war es, die Bürgerschaft gegen traditionelle Führungsansprüche des Adels immun zu machen und zwar v.a. bei den umfassenden organischen Maßnahmen, die eigentlich als Kleisthenische Verfassung gelten. Im Rahmen der Phylenreform wurden die gentilizischen Phylen durch lokale Phylen ersetzt, was Ausdruck der Bestrebung war, vom alten Adelsstaat loszukommen.
Der Personenstand des attischen Bürgers bestimmte sich nach der Zugehörigkeit zu einer Phratrie und zu einer Phyle. Phylen gab es vier. Das maßgebliche Wort in diesen Organisationen sprachen die adligen Geschlechter, und die innere Unselbständigkeit des Bürgers dem Adel gegenüber ging zum Teil auf diese alte Einrichtung zurück. Kleisthenes klammerte die Phylen nun völlig aus, indem er das Personalregister gänzlich hiervon löste und es auf die einzelnen Gemeinden, die Demen, stellte (hiervon gab es 139). Die Demen verwalteten sich selbst, bestanden in der Regel aus einer natürliche Einheit und umfaßten meistens einige hundert Bürger. Um den Einfluß der alten Adelsfamilien in dieser neuen Ordnung zurückzudrängen, wurde die Vereinigung mehrerer Demen nicht nach geschlossenen Komplexen vorgenommen, sondern diese umgreifenden Einheiten - sie hießen auch Phylen - setzten sich aus Demen drei verschiedener territorialer Zonen (Trittyen) zusammen. Die einen gehörten zum Stadtgebiet (Asty), andere zur Küstengegend (Paralia), die dritten zum inneren des Landes (Mesógeios). Es gab zehn solcher Phylen, wodurch eine solche Streuung erzielt wurde, daß dominierende lokale Einflüsse keinen Raum finden konnten.

2.3.3. Rat der Fünfhundert und weitere Reformen

Aber Kleisthenes ging noch weiter: Jede Phyle stellte nämlich jetzt jährlich fünfzig Ratsherren, so daß der Solonische Rat der Vierhundert auf Fünfhundert anwuchs (boulé). Die Aufgabe der boulé war die Vorbereitung der Angelegenheiten der Volksversammlung (ekklesia) und die Vorbereitung von Beschlüssen derselben. Die zahlreichen Geschworenen, die an der Stelle der Volksversammlung als deren Ausschuß Rechtsentscheidungen zu fällen hatten, wurden ebenfalls in jeweils gleicher Anzahl von den Phylen bestimmt. Die Staatsgeschäfte leiteten weiterhin die 9 Archonten, die jährlich aus der obersten Gesellschaftsschicht gewählt wurden. Die Leute für die Wahrnehmung öffentlicher Funktionen wurden per Los bestimmt.
Jede Phyle stellte eine Hopliten-Abteilung (Taxis) von zunächst 1.000 Mann. Es wurde eine neue Körperschaft geformt, der strategoi, das Gremium der Strategen. Die Strategen waren die Befehlshaber des Heeres und der Flotte und hatten den Vorsitz im Volksgericht bei allen militärischen Fragen. Wählbar waren nur die Bürger der beiden oberen Klassen.
Mehrere wichtige Institutionen blieben so erhalten, wie sie schon nach den Reformen Solons bestanden hatten: Die Ekklesia, die Archonten sowie der Areopag.
Von der späteren Überlieferung wurde Kleisthenes eine weitere bedeutende Neuerung zugeschrieben: das Scherbengericht (Ostrakismos), welches erstmals für das Jahr 487 belegt ist, also erst 20 Jahre nach der kleisthenischen Phylenreform. Wurde die relative Mehrheit in einem Quorum von mindestens 6.000 erreicht, mußte derjenige, auf den die meisten Stimmen entfallen waren, für 10 Jahre ohne Einbuße an Ansehen und Vermögen in die Verbannung gehen.

Durch alles dies war die Verfassungspolitik Kleisthenes` eine Fortsetzung derjenigen Solons. Doch während Solon davon überzeugt war, der Mensch könne aus eigener Kraft Gutes tun, wollte Kleisthenes da, wo der Mensch versagte, ihm durch institutionelle Mechanismen zu Hilfe kommen.
Unter Kleisthenes (509) kam es zu einer territorialen und politischen Neuordnung, aber der Areopag behielt weiterhin seine exekutive Macht. Die gesellschaftlichen Bindungen des Volkes an den Adel wurden aufgelöst. Die Bürger erhielten politisches Mitspracherecht in den Demen und verlieh ihren Stimmen in der Volksversammlung mehr Gewicht, weshalb sie hinter den Reformen standen.
Leitgedanke der Ordnung war die Isonomie (Gleichheit vor den Gesetzen) , im Sinne von Gleichheit derer in der Volksversammlung, die gemeinsam als Hopliten für die Stadt in den Kampf zogen.
Die Motive des Kleisthenes sind nicht völlig klar, aber das Bauprinzip der Reform zeigt deutlich den Gleichheitsgedanken, Sonderinteressen sollten ausgeschaltet werden. Herodot sagt daher wohl nicht zu Unrecht, daß Kleisthenes mit seiner Phylenreform die Demokratie begründete.

Exkurs: Vom Persisch-Karthagischer Angriff bis zur Gründung des Seebundes

Bei den kleinasiatischen Griechen, vor allem bei den Ionern, nahmen die Aristokraten gegenüber der des längeren vordringenden demokratischen Welle eine Rückzugsstellung ein.
Ursprung der Begeisterung der kleinasiatischen Griechen war das Aufbegehren gegen die Klassenherrschaft der Tyrannen. Aristagoras konnte zwar Sparta nicht zur Unterstützung bewegen, dafür aber Athen, welches Jahre zuvor die Tyrannis beseitigt hatte. Nach einigen Anfangserfolgen mußten sich die Griechen überall wieder zurückziehen und nach der Seeschlacht bei Lade (495) kam es zum endgültigen Zusammenbruch des Ionischen Aufstandes. Dareios aber wollte die Niederwerfung des Aufstandes mit der Unterwerfung des griechischen Festlandes krönen. Auf die konservativen Kreise Mittelgriechenlands konnte er sich dabei verlassen, hätten diese doch nichts gegen eine persische Herrschaft einzuwenden gehabt, die ihnen die demokratische Bewegung vom Leibe hielt. Mit der Katastrophe von Milet (494) trat ein Einzelgänger hervor: Themistokles, selbstverständlich auch ein Adliger, der 493 Archont wurde. Letztlich unterlag er aber einem gesammelten Angriff der Aristokraten, die sich mit der demokratischen Entwicklung Athens noch nicht ausgesöhnt hatten und die außenpolitische Seite dieses Kurses, also einen strikten Antipersismus, ablehnten.

Die verhängnisvolle Wendung unterblieb, weil ein Mann, dem die Konservativen ihren Sieg verdankten, von Grund auf anders dachte und diese Sicht auch durchzusetzen verstand: Miltiades. Obgleich selbst Tyrann, beteiligte er sich am Ionischen Aufstand. Bei Marathon schlug er die Perser in die Flucht, die bei verhältnismäßig geringen Verlusten entkamen. Die Perser gaben sich jedoch nicht so leicht geschlagen. Nach dem Tod des Dareios (485) trat der älteste Sohn seiner zweiten Frau, Xerxes, die Nachfolge an. Dieser sah die Gelegenheit, dem Weltherrschaftsanspruch seiner großen Vorgänger die letzte Verwirklichung zu verschaffen.
In Sparta und Athen machte sich derweil der Eindruck breit, die äußere Gefahr definitiv losgeworden zu sein. Der Marathonsieger Miltiades wurde gestürzt, nachdem ein Freibeuterunternehmen gegen die Insel Paros fehlgeschlagen war. Kurz darauf starb er an seinen hierbei erlittenen Verletrzungen. Sein Sohn Kimon mußte die gigantische Buße von fünfzug Talenten bezahlen. Die Alkmaioniden gelangten wieder an die Macht und trieben die demokratische Entwicklung des attischen Staates ein erhebliches Stück voran.
Der von Kleisthenes für viele andere Ämter eingeführte Grundsatz der absoluten Gleichheit der Chance aufgrund des Loses sollte auch für das Archontat gelten. Athen besaß nun keine formelle Zuständigkeit mehr für das Regieren und es kam jetzt im Grunde darauf an, wer sich als Volksführer (Demagoge) in der Volksversammlung durchsetzte, allein gestützt auf sein Ansehen und seine Anziehungskraft, also auf die Qualität, welche die moderne Soziologie als Charisma bezeichnet.
Wahrscheinlich im selben Jahr wurde der sogenannte Ostrakismos (das Scherbengericht) eingeführt: Wenn sich mindestens 6.000 Stimmen auf einen Namen einigten, so war der Betreffende ostrakisiert und mußte für zehn Jahre ohne Schmälerung seines Vermögens und seiner Ehrenrechte außer Landes gehen. Diese negative Abstimmung bescheinigte ihm, daß er der aussichtsreichste Rivale des zur Zeit maßgebenden Demagogen war und diesem für längere Zeit durch seine Abwesenheit die Bahn freigeben mußte. Die Alkmaioniden, die diesen Mechanismus erfunden hatten, wurden Opfer desselben und befanden sich in den Jahren der großen Entscheidung nicht auf der politischen Bühne.

Auf die Auseinandersetzung mit den Persern waren die Griechen diesmal besser vorbereitet: Sparta brachte das Gros des Peloponnesischen Bundes hinter sich und Athen ordnete seine inneren Kräfte, vor allem indem die politische Leitung in die Hände des Themistokles fiel. Er ließ innerhalb kürzester Zeit eine Flotte bauen und sie von Theten rudern. Diesmal kam es auch zu einer engen Verflechtung zwischen Sparta und Athen in der sog. Eidgenossenschaft gegen Persien.
Der Feldzug des Xerxes (480) verlief zunächst zum Nachteil der Griechen, Mittelgriechenland wurde verloren, Delphi geriet in persische Hände, Athen mußte sogar zwischenzeitlich evakuiert werden, die Perser schlugen dort ihr Hauptquartier auf. Xerxes wollte nun auch möglichst schnell die athenische Flotte besiegen, bevor sie fliehen konnten. Diese lag vor der Küste bei der Insel Salamis. Da die Griechen den Persern nicht den Gefallen taten, aus ihrer Bucht herauszukommen, sperrten die Perser diese ab. Hierbei wurde die persische Flotte eingekeilt und schwer geschlagen. Xerxes brach das ganze Unternehmen ab und wollte im darauffolgenden Jahr Griechenland mit einer wiederhergestellten großen Flotte erneut angreifen.
Die Athener gaben nun ihren Defätismus auf und begannen das neue Jahr mit einer energischen Offensive. Der erste Vorstoß erfolgte unter Leitung des Spartaners Pausanias noch ehe die Abwehrmauer der Perser fertig war. Im Hochsommer 479 kam es zur Schlacht bei Plataiai in Boiotien, die zur totalen Niederlage der Perser führte. Auch den Seekrieg gaben die Perser auf und rüsteten die Flotte ab. Für die Griechen war der Seekrieg damit jedoch noch nicht zu Ende.
Während des Perserkrieges hatten sich die Griechen Siziliens eines Angriffs der Karthager zu erwehren. Letztere wurden in der Schlacht an der Himera (ebenfalls 480) vernichtend geschlagen. Der Sieger Gelon und - zwei Jahre später - sein Nachfolger und Bruder Hieron führten eine Tyrannenherrschaft alten Stils, die sie in bewußt konservativem Licht darstellten. Gegen den Wind demokratischer Denkart war diese Atmosphäre abgedichtet. Es dauerte noch bis zum Ende der sechziger Jahre, bis die politische Bühne die Szenerie wechselte.

Es war wirklich nicht alles ein Ruhmesblatt, was sich damals auf griechischer Seite zugetragen hat. Zweifellos war ungeheuer viel Glück dabei oder, wie die Griechen einer späteren Epoche sich ausdrückten, Werk der Tyche, des Zufalls.(11) Es ist aber auch historische Wahrheit, daß Griechenland als Ganzes sich niemals in seiner Geschichte, weder vorher noch nachher, zu einer vergleichbaren Höhe gemeinsamer politischer Anstrengungen erhoben hat. Marathon und Salamis hatten entscheidenden Einfluß. Wie weit dieser reichte, hat einmal der Engländer John Stuart Mill ausgedrückt: Die Schlacht von Marathon ist selbst als ein Ereignis der englischen Geschichte wichtiger als die Schlacht bei Hastings.(12)
Doch es herrscht unter den Historikern Uneinigkeit darüber, wie es mit den Griechen weitergegangen wäre, wenn die Perser gewonnen hätten. Die Entscheidung im Krieg gegen die Perser bewahrte aber Griechenland nicht nur vor dem Zusammenbruch seiner bisherigen Geschichte, sie legte auch einen neuen Keim für die Zukunft.
Erst die Politik des Themistokles hatte Athen zu einer Seemacht werden lassen. Er stand auch später in sehr hohem Ansehen bei den Athenern, seine Schlauheit bzw. Gerissenheit schlug sich in unzähligen Legenden nieder. Seit 479 trat er schon nicht mehr offiziell in einer amtlichen Stellung auf, aber sein Einfluß auf die attische Politik war damit nicht ausgeschaltet.

Der Delisch-Attische Seebund wurde im Frühjahr 477 gegründet und umfaßte letztlich 200 Mitglieder. Alle Beteiligten hatten einen Bundesbeitrag in Form eines Schiffskontingentes zu stellen oder aber einen Geldbetrag, den Tribut, zu entrichten. Der Zweck des Bundes war der Kampf gegen die Perser. Er sollte die kleinasiatischen Griechen befreien und gegen die Revanche der Perser schützen. Viel zu tun gab es nicht. Lediglich in Thrakien konnte sich der athenische Feldherr Kimon, der Sohn des Miltiades, in der Mitte der siebziger Jahre kriegerische Lorbeeren holen. Athen war der Kopf des Bundes, die attische Flotte wurde enorm vergrößert, der Piräushafen gewaltig ausgebaut.
Innerhalb von zehn bis fünfzehn Jahren war so aus Athen eine Großmacht geworden.

2.4. Das demokratische Moratorium unter Kimon

Ab 478/7 war Kimon der wichtigste Stratege. Über die Zeit bis 461 wird oftmals als das Zeitalter Kimons gesprochen, jedoch gab er der Politik keinen eigenen Impuls, sondern führte einfach fort, was angelaufen war.
Da innenpolitisch alles gutging, genoß Kimon großes Ansehen. Was der Areopag vorschlug, wurde in der Volksversammlung abgesegnet. Die Hopliten und Theten, die mit ihm ausfuhren, wurden an der Beute beteiligt und damit ruhiggestellt.
In den siebziger Jahren wuchsen dem alten Adelsrat neue bedeutende Funktionen zu. Hier v.a. wurde die komplizierte Materie der attischen Außenpolitik - quasi hinter verschlossenen Türen - diskutiert, was einem Rückschlag für die Demokratie gleichkam!
Meier weist darauf hin, daß die Stellung, die der Areopag gegenüber den Fünfhundert und der Volksversammlung einnahm, die Form der Autorität (axioma) hatte.(13) Kimon stützte sich auf den Areopag und da er als Feldherr auch beim breiten Volk angesehen war, führte dies zu einer gewissen Harmonie.
Bleicken bezweifelt, ob man die knapp zwei Jahrzehnte vor 462/61 als Demokratie bezeichnen kann, auch wenn in dieser Zeit alle wesentlichen demokratischen Elemente verwirklicht waren. Eher kann man sie als Periode des Übergangs ansehen, in der die Veränderungen des Kleisthenes nur sehr allmählich wirksam wurden.

Kimon und Themistokles waren die beiden Antipoden, beide mit ihren eigenen Stärken und Schwächen. Doch in ihrer Einstellung zu Sparta waren die Differenzen zu groß. Themistokles wollte sich der Anbiederung Kimons nicht beugen und unterlag - wahrscheinlich 471 - dem Ostrakismos.
Kimon
und Themistokles waren zwei grundverschiedene Charaktere: Beide zwar aristokratischer Herkunft hatte doch Kimon einen sehr viel größeren Reichtum und kam aus einem der ersten Häuser der Stadt. Kimon lag es am Herzen, andere an seinen Gütern teilhaben zu lassen. In einem glichen sich die beiden jedoch: Sie hatten an musischer Ausbildung nicht viel mitbekommen. Kimon war ein beliebter Feldherr und ein machtbewußter Politiker. Obwohl Themistokles der bessere Redner war, folgten Volksversammlung und Areopag Kimon. Die spätere Verurteilung des Themistokles wurde zu einer folgenschweren Belastung der attischen Innenpolitik.

2.5. Die Revolution des Ephialtes

462/1, während einer Abwesenheit Kimons, gingen Ephialtes und die Seinen zum Gegenangriff gegen den Areopag vor. Sie brachten einen Antrag ein und setzten ihn durch, wonach dem Rat alle Funktionen außer der Blutgerichtsbarkeit und einige religiöse Aufsichten genommen werden sollte und sie verteilten diese auf den Rat der Fünfhundert, die Volksversammlung und die Volksgerichte. Jetzt war der letzte Schritt in Richtung einer Regierung aller getan. Jeder Beamte war während des Amtes und nach dessen Niederlegung ununterbrochen der Aufsicht aller unterstellt. Kein Staat nach Athen ist so mit seiner Regierung umgegangen.(14)
Kimon
versuchte noch, die Entmachtung des Areopags rückgängig zu machen. Ohne Erfolg. Nie hatte Athen einen so einschneidenden Umsturz erlebt (Kein Vergleich zu dem der Zeit von Kleisthenes): Das Volk sollte uneingeschränkt herrschen. Die allein wichtigsten Organe sollten zukünftig ein jährlich auszuwechselnder Rat von Männern sein, daneben Volksversammlung und Volksgerichte.
Nirgends hatte es das schon einmal gegeben, daß eine Stadt auf die politische Mitwirkung des Ratsgremiums verzichtete. Überall wurden diese Veränderungen zur Kenntnis genommen, denn Athen war nicht irgendeine Stadt, sondern die Vormacht des Seebundes.
Um das Jahr 463 geschah es auch das erste Mal, daß das Wort Volk mit dem Prädikat herrschen verbunden wurde. Es scheint, daß damals auch der Begriff Demokratie geprägt wurde.(15) An dem Bewußtsein dieser Volks-Herrschaft scheint es noch gefehlt zu haben. Bis jetzt hatte man die Vorstellung des herrschens ganz und gar mit einzelnen Personen verbunden. Dennoch wurde der Übergang von der Isonomie (gleiche politische Rechte für alle Bürger) zur Demokratie (Volks-Herrschaft) vollzogen.
Kimon
versuchte, Kleisthenes` Aristokratie wiederherzustellen (die sog Bestenherrschaft). Letztlich kam die Dynamik Athens zum Sieg: Die Dynamik einer jüngeren Generation, die die Perserkriege nur aus Erzählungen kannte und die Dynamik der neuen Schicht der Theten, die, nachdem sie einmal mobilisiert war, nur allzu bereit sein mußte, eine neue ausgreifende Politik zu tragen.
Nachdem es bei den Bauern Jahrhunderte gedauert hatte, bis auf die Einführung der Phalanx die regelmäßige Mitsprache folgte, verlief die Angleichung der politischen Rechte an die militärischen Funktionen bei den Theten sehr schnell. Einerseits war die Mitsprache der breiten Schichten schon gegeben, andererseits wurden die Theten militärisch viel stärker gebraucht.
Ab 462/1 kann man die Demokratie in Athen, in Griechenland datieren. Sie ist vor allem durch die Auflösung derjenigen politischen Macht bestimmt, die seit der Adelszeit die Stadt gelenkt hatte, die der Beamten. Schwierig ist es, für die Reformen ein Motiv zu finden. Hatte Ephialtes überhaupt ein innenpolitisches Programm (etwa Demokratisierung), für das er eine günstige außenpolitische Konstellation nutzte (Abwesenheit des Spartafreundes Kimon), oder verfolgte er eine bestimmte Außenpolitik, zu deren Durchsetzung er innenpolitisch aktiv wurde?
Gegen Kimon entbrannte eine offene Revolution, welche von Ephialtes angeführt wurde. Er machte vielen Areopagiten den Prozeß, Kimon wurde durch Ostrakisierung bescheinigt, daß er abgewirtschaftet hatte. In dieser vergifteten Atmosphäre wurde Ephialtes selber Opfer eines Meuchelmörders.
Die Athener bemühten sich in den folgenden Jahrzehnten immer wieder um die weitere Schwächung, ja Auflösung der exekutiven Gewalt. Nach 458/57 wurde das Archontat sogar den Zeugiten zugänglich gemacht, und sehr bald schon waren die meisten Beamten reine Losbeamte, wurden nur Offiziere, Finanzbeamte, Gesandte und etliche Kulturbeamte gewählt. An die Stelle der Exekutive rückt - v.a. unter Perikles der Volksführer (Demagoge), der allein durch seine Autorität und seine Argumente das Volk lenkte. Die sog. Revolution des Ephialtes war letztlich im wesentlichen die Übertragung der Beamtenkontrolle vom Areopag auf das Volk, nämlich auf die Rechenschaftsverfahren. Letztere wurden nicht nur zugleich mit der Demokratie geboren, sondern bildeten den Auftakt, durch den die isonome Gesellschaft der Hopliten (Isonomie) sich zur demokratischen Gesellschaft wandelte.
Die Stellung führender Persönlichkeiten in Athen beruhte in erster Linie auf Überzeugungskraft und Ansehen, da es hier keine Regierung gab, die ernannt oder gewählt worden wäre und auch keine Parteien oder Organisationen, deren Vorsitz man hätte innehaben können.
Vermutlich brauchte schon das isonome, vor allem dann das demokratische Athen Persönlichkeiten, an deren Autorität eine Mehrheit (...) in der Bürgerschaft sich orientieren konnte; ...(16) (Aussage von Thukydides über die Herrschaft des Perikles!)
Wer jedoch etwas anderes vorhatte, als wohin die Bürgerschaft gerade tendierte, ist auf längere Sicht regelmäßig gescheitert.

Exkurs: Die Situation zur Jahrhundertmitte

Parallel zur politischen Blüte erreichten Dichtung, bildende Kunst, Architektur, Wissenschaft und Philosophie ihren Höhepunkt. Eigenartigerweise vollzog sich alles dies in der attischen Öffentlichkeit. Kann man diese Kunst, diese Wissenschaft etc. als demokratisch bezeichnen? Vieles wurde damals unter den verschiedensten politischen Ordnungen hervorgebracht. Und doch hat sich zumindest auf der Athener Akropolis, wohl zum einzigen Mal in der Weltgeschichte, die Demokratie als ein Bauherr von Kompetenz erwiesen. Und doch ist die große Zeit der Tragödie offensichtlich aufs engste mit der attischen Demokratie, dem attischen Bürger-Publikum verknüpft.(17)
Die erste Einführung der Demokratie hatte jedoch weitreichende Konsequenzen, z.B. in der Theologie und der Tragödie, etwa bei Aischylos. Wie Meier formuliert: eine ganz neue Balance (mußte) auch am Himmel gewonnen werden.(18)
Durch Abschaffung des Areopags drang die Politik jetzt wirklich in die Mitte der Bürgerschaft. Die Adligen konnten sich mit der Situation nicht abfinden. Ob der Mörder des Ephialtes (461) aus ihren Reihen stammte, konnte nie geklärt werden. Noch Jahre später verdächtigte man die Adligen, mit den Spartanern zu konspirieren, um die Demokratie zu stürzen.

457 wurde in Athen ein Gesetz erlassen, wonach auch Angehörige der dritten Zensusklasse, der Zeugiten, das oberste Amt, das Archontat, bekleiden durften. Kurz nach 461 begann man zudem damit, Volksbeschlüsse, Abrechnungen, Dokumente verschiedener Art auf Stein zu schreiben und aufzustellen. Zur Demokratie gehörte auch die Möglichkeit, sich umfassend über alles zu orientieren.
Irgendwann in diesen Jahren müssen auch die Diäten eingeführt worden sein, zunächst nur für den Rat der Fünfhundert, dann aber nach und nach für die verschiedenen Ämter. Eine bedeutende Rolle in diesem Zusammenhang spielte der Richtersold. Die Einführung der Diäten soll auf Perikles zurückgehen. Auf die Dauer stellte der Geschworenendienst neben dem militärischen die wichtigste öffentliche Funktion des Durchschnittsbürgers dar.(19)
Es wurden auch verschiedene neue Ämter eingerichtet, manche davon zehnfach besetzt. Das Prinzip war womöglich, daß eine breite Beteiligung an Ehren und Aufträgen die Demokratie schmackhaft machen und die Amtsinhaber sich wichtig vorkommen lassen sollte, damit sich Athen besser regieren ließe,
Zwei Jahre vor dem sog. Kalliasfrieden, 451, wurde das Bürgerrechtsgesetz des Perikles beschlossen: athenischer Bürger sollte künftig nur sein, wer beiderseits von Athenern abstammte. Worin die Motive für dieses Gesetz lagen, ist nicht genau rekonstruierbar, aber die Demokratie schien auf die Homogenität der Bürgerschaft angewiesen zu sein. Gleichzeitig war man in Athen keinesfalls fremdenfeindlich. Die Metöken konnten vor allem in Athen völlig unangefochten und unangefeindet ihren Geschäften nachgehen.
Im Verhältnis zu den übrigen Seebundsmitgliedern verhielt sich Athen nicht ganz so demokratisch: u.a. wurden Seebundsgelder zur Verschönerung der Akropolis verwandt. Laut Thukydides erklärte Perikles später, Athen übe eine Tyrannis aus. Nur im Inneren gelang es, eine stärkere Kooperation zu ermöglichen, nach außen sollte Athen seine Macht demonstrieren, möglichst autark sein und auf Verfügung statt auf langfristige partnerschaftliche Zusammenarbeit setzen.
Auch hatten sich moderne Humanitätsvorstellungen noch nicht entwickelt. Es gab Versklavung, blutige Kriege und Massenhinrichtungen, Menschen waren verkäuflich. Griechische Größe im Politischen, v.a. im Falle Athens, erschöpfte sich im Innern der Städte, nur Sparta verstand sich, freilich auf aristokratischer Basis, auf das Flechten weiter, stabiler Beziehungsnetze.
446 wurde ein dreißigjähriger Friede mit Sparta abgeschlossen. Die ausgreifende Kriegführung war fehlgeschlagen. Bis auf Ägina war alles verloren, worum Athen seit 460 auf dem griechischen Festland gerungen hatte.
Athen richtete zuweilen in verbündeten Städten Demokratien ein und schickte Mitglieder der alten Oligarchien in die Verbannung. Jedoch war Demokratie keine Sache der Mission, sondern der Herrschaftssicherung!

2.6. Das Perikleische Zeitalter und die Ausbildung der radikalen Demokratie

2.6.1. Der Aufstieg des Perikles

Wenn je eine Gesellschaft sich im Aufbruch befand, dann war es Athen in der Mitte des 5. Vorchristlichen Jhdts. Und das Charisma des Perikles bestand in der Bändigung und Kanalisierung dieser Wucht. Als Angehöriger des adligen Geschlechts wurde er etwa um 495 geboren. Die demokratische Tradition kam von seinen Vorfahren mütterlicherseits: Die Mutter war eine Nichte des berühmten Kleisthenes. Als Perikles in die aktive Politik eintrat, war er vierzig Jahre alt.
Mit dem Bürgerrechtsgesetz 451 tritt Perikles - der engste Kampfgenosse des Ephialtes - in den Vordergrund der attischen Politik. Er wird immer wieder zum Strategen gewählt, von ihm stammen die bedeutendsten politischen Initiativen.
Perikles
wurde Jahr für Jahr (mit wenigen Ausnahmen) zu demjenigen Strategen gewählt, dessen Kandidaten aus der ganzen Bürgerschaft genommen wurden. Diese merkwürdige Institution gab es erst seit der Abwertung des Archontats; sie war eine Surrogatlösung der unvermeidlichen Aufgabe, den bestimmenden Politiker im Rahmen einer Verfassung zu etiquettieren, welche diesen Posten nicht vorgesehen hatte. Denn die zehn Strategen, eine alte Einrichtung, waren ausschließlich militärische Kommandanten und mußten aus Gründen der Parität jeweils den zehn einzelnen Phylen entstammen. Nur bei einem von ihnen hatte das Volk die Möglichkeit der freien Wahl, und wen es als solchen bestimmte, der galt als verantwortlicher Staatsmann. Was er in der Volksversammlung durchsetzte, beantragte er im Grunde als einfacher Bürger. Durch seine Wahl war ihm lediglich als tatsächliche Chance in Aussicht gestellt, daß die Versammlung ihm gegebenenfalls auch folgte, und jedes Jahr stand es ihr bei der Strategenwahl frei, dieses indirekte Mandat zurückzuziehen.
Bis 443 war Perikles allerdings noch nicht der unbestritten führende Mann. Ihm gegenüber stand der Sohn des Melesias, der ebenfalls Thukydides hieß. 443 wurde dieser ostrakisiert.
Fortan leitete Perikles den attischen Staat als Exponent einer durch den Umsturz radikalisierten Demokratie. Von 443 bis 429 wurde Perikles alljährlich zum Strategen gewählt.
Er scheint ein wahrhaft überragender Politiker seiner Zeit gewesen zu sein. Meier beispielsweise überschüttet ihn mit Lob: Sein Geschick, seine Rednergabe, sein souveräner Verstand, seine Urteilskraft, nicht zuletzt die bemerkenswerte Selbstdisziplinierung, die Unbestechlichkeit, die Unbedingtheit, mit der er sich in den Dienst der demokratischen Polis stellte - dies alles zusammen hat Perikles gewiß einen weiten Vorsprung vor allen möglichen Rivalen gegeben.(20)
Dennoch war sein Ansehen und seine Autorität so unbegrenzt, daß es bei Thukydides in einem berühmten Ausspruch dagegen heißt, Athen wäre damals dem Begriff nach wohl eine Demokratie gewesen, in Wirklichkeit hätte es unter der Herrschaft des ersten Mannes gestanden.
Um sich von bedrängenden innenpolitischen Themen zu entlasten, verwickelte Perikles Athen in außenpolitische Konflikte. Seit 432/31 befanden sich Athen und Sparta im Kriegszustand. Als die Feinde Athens attisches Land verheerten und unter der in der Stadt zusammengepferchten Bevölkerung die Pest ausbrach, wuchs die Opposition gegen Perikles. Verurteilt wegen Amtsmißbrauchs verlor er sein Strategenamt, wurde jedoch 429 wieder in diese Stellung gewählt. Er starb noch im gleichen Jahr.

2.6.2. Inhalt der Verfassungsreform

Die entscheidenden Verfassungsprinzipien auf dem Weg zur Demokratie sind im Grunde schon vor Perikles herausgestellt worden. Doch in seiner Zeit wurde in dieser Entwicklung nicht nur das letzte überhaupt denkbare Stadium erreicht, sondern es stellte sich auch das Bewußtsein ein, daß Athen mit der Demokratie die ihm eigentümliche politische Form gefunden habe.
Die Reformen von Ephialtes und Perikles führen ab 462 zur demokratischen Ordnung Nun geht auch die exekutive Macht auf die Bürger in der Volksversammlung über.
Das Hauptstück ihrer Verfassungsreform war die politische Ausschaltung des Areopags. Es war viel, daß man ihn nicht völlig abschaffte und ihm als Rest seiner alten Zuständigkeit wenigstens die Blutgerichtsbarkeit ließ. Aber in der Politik hatte er nichts mehr zu suchen, seine Aufsicht über die Legislative entfiel. Das Volk war praktisch unbeschränkter Herr über sie. Die andere Maßnahme: wo bisher innerhalb der demokratischen Institution sich noch der Einfluß der vermögenden Kreise bemerkbar machen konnte, da wurde er eliminiert. Dies betraf alle Ehrenämter, deren Zeitaufwand die finanzielle Abkömmlichkeit erforderte. Darunter fielen vor allem eine Menge Verwaltungsstellen, der Rat und die Gerichtshöfe. Von Staats wegen erhielt jetzt jeder durch den Empfang von Diäten auch die tatsächliche Fähigkeit, von seinem Recht, diese Posten zu bekleiden, Gebrauch zu machen.

Mit der Institution des Archontats hatte man schlechte Erfahrungen gemacht. Herrschen und beherrscht werden sollte in einer Hand liegen. Obrigkeitliche Macht wurde weitgehend abgebaut, weshalb auch die Amtsgeschäfte weit ausdifferenziert wurden. Außer für die Finanzverwaltung, für die eine bestimmte Vermögensqualifikation vorgesehen war (tatsächliche Durchführung der Haftung für Fehler und Veruntreuungen!), besaß das Los die fundamentale Rolle im attischen Staatswesen. Auch das Archontat wurde der Mittelklasse der Zeugiten zugänglich gemacht. Nur bei der Bestallung der militärischen Kommandanten, den Strategen, wurde dem qualitativen Urteil durch Wahl Raum gegeben. Jeder Bürger war berechtigt, in der Volksversammlung Anträge zu stellen.
Dasjenige Organ, welches die Geschäftsfähigkeit der Volksversammlung (ekklesia) erst ermöglichte, war der Rat der Fünfhundert (boulé). Er hatte für die Vorbereitung der Beschlüsse Sorge zu tragen; Anträge mußten im allgemeinen ihm eingereicht werden. Seine Mitglieder wurden durch das Los berufen, je fünfzig aus jeder Phyle.
Die attische Demokratie war ihrem idealen Grundriß nach, wie er sich klar vor allem aus dem späteren Ausbau im 4. Jahrhundert ergab, geradezu von dem Gedanken besessen, ihre innere Stabiltät zu sichern und den Zufall momentaner Einfälle und Gefühlsregungen auszuschalten. Der schier unbegrenzten Freiheit der Initiative stand ein System regressiver Kontrollen gegenüber. Jeder Politiker, der in der Volksversammlung die Leute hinter sich brachte, stand unter dem Damoklesschwert einer später folgenden Anklage, daß er mit seinem Antrag entweder gegen die Gesetze verstoßen habe oder, ganz allgemein, sein von der Ekklesia angenommener Vorschlag nichts tauge oder er sich gar gegen die Demokratie vergangen habe; und selbst wenn er noch gar keinen Beschluß durchgesetzt hatte, konnte er für die Richtung seiner Politik, die er durch seine Reden und sein öffentliches Auftreten vertrat, vor Gericht gezogen werden.(21)
Durch alles dies entwickelte sich eine starke Politisierung der Massen, die allerdings bereits ein Werk des Kleisthenes war. Die Aufhebung der sozialen Schranken zur tatsächlichen Verwirklichung erfolgte aber erst mit der Einführung von Diäten (misthós). Perikles führte die ersten Zahlungen, nämlich die für Richter und Ratsherren, wohl auch schon für etliche Beamte ein. Der in der Demokratie selbstverständliche Soldatenlohn ist aber einige Jahrzehnte älter als die entwickelte Demokratie.
Die Voraussetzungen für diese Entwicklung lagen in dem gesteigerten Selbstbewußtsein der ärmeren Schicht sowie in der Tatsache, daß erst das reicher gewordene Athen die finanziellen Mittel dafür aufbringen konnte.
Mit Ausnahme der Zahlung von Tagegeldern waren alle Verfahrensformen der Demokratie (z.B. Losverfahren, Prüfung der gelosten oder gewählten Beamten, Rechnungslegung während und nach dem Amt) schon in vordemokratischer Zeit bekannt, aber erst in der Demokratie werden sie zur Absicherung des demokratischen Gedankens voll entwickelt und können seitdem als für sie typische Einrichtungen gelten.(22)

2.6.3. Einordnung der attischen Demokratie zur Zeit des Perikles

Wohl nirgends sonst sind die kleinen Geschichten des Alltags und die großen der Politik und der Weltpolitik so eng verquickt gewesen wie im damaligen Athen.
Die Stadt und ihre Häfen war zu dieser Zeit voll von Interessantem, Kurzweiligem und Erregendem: Politik- und Kriegsgeschehen, den langfristigen Vorhaben und Planungen, den neuen Thesen, Behauptungen und Entdeckungen sowie eine lange Reihe von Festen. Indem Athen die reichen Möglichkeiten der Griechen aufnahm und beträchtlich steigerte, wurde es zur Schule von Griechenland. Perikles weist bei Thukydides darauf hin, daß Athen seine politische Form selbst entwickelt habe, nicht von andern gelernt, sondern eher ein Vorbild für andere. So als ob letztlich auch die Ordnung aus dem eigenen Boden gewachsen wäre.(23)
Pseudoxenophon
schreibt in seiner Abhandlung Über die Verfassung der Athener, daß diese Verfassung zwar schlecht, aber in Hinsicht auf die Interessen der niederen Schichten zweckmäßig eingerichtet sei; und zwar nicht nur die Verfassung im engeren Sinne, sondern das gesamte System der Stadt. Nach seiner Darstellung scheint es so, als habe im übrigen Griechenland weithin noch das Ideal einer aristokratisch dominierten Verfassung, der Eunomie, gegolten. Nach Pseudoxenophon fragte man sich, warum die Athener so töricht waren, sich nicht nach der Rechtschaffenheit und Weisheit der Adligen zu richten. Er sah die Antwort darin, daß das Volk von Athen primär seinen eigenen Nutzen im Auge habe. Es höre lieber auf Ungebildete und Gemeine, wenn sie nur auf seiner Seite stünden.(24)
Perikles
verteidigte die Demokratie damit, daß in privaten Streitigkeiten jeder das gleiche gelte; die allgemeine Wertschätzung, die sich am Gemeinwesen orientiere, unterscheide nicht nach Hoch und Niedrig, sondern nach dem Mannestum, der Tugend (areté) des Einzelnen. Auch wenn er arm ist, sei er durch die Unscheinbarkeit seines Ranges nicht gehindert, der Stadt gute Dienste zu erweisen.
So wurde die areté sozusagen demokratisiert, oder besser politisiert, nämlich ganz auf die Polis bezogen. Eine neue Aristokratie entstand, in der auch die kleinen Leute ihren Platz hatten.(25)
Die attische Demokratie folgte v.a. zwei Grundsätzen: Erstens sollten alle Entscheidungen möglichst in der Öffentlichkeit, aufgrund öffentlicher Diskussion, gefällt werden, und zwar jeweils vom größtmöglichen Gremium. Zweitens sollten die Bürger, soweit es ging, an der Politik, auch an den Ämtern beteiligt sein. Es sollte grundsätzlich Organisation von Einfluß, Manipulation von kleinen Kreisen nicht stattfinden.

2.6.3.1. Demokratische Neuerungen

Mit der Erkenntnis, daß Souveränität unteilbar ist, hat kaum ein antiker Staat konsequenter Ernst gemacht als der attische. Eine seiner charakteristischsten Einrichtungen ist aus diesem Grundsatz hervorgegangen: die Geschworenengerichtshöfe.
Wer die Vision verfolgt, Staat und Gesellschaft ließen sich zur Deckung bringen, wird den Athenern jener Zeit nicht die Anerkennung versagen, sie hätten es in dieser Hinsicht vielleicht weiter gebracht als jemals ein Volk in der Weltgeschichte. Im Zusammenhang hiermit steht auch, daß zwei Begriffe ins Zentrum der Überlegungen gelangten: die Gleichheit (oder Gleichberechtigung: isonomía und isegoría) sowie die Freiheit. V.a. Perikles stellte die Freiheit in den Mittelpunkt: Die Erziehung war freizügig, so erfolgte die Vorbereitung auf den Kriegsdienst nicht, wie in Sparta, ein Leben lang und in aller Strenge, sondern gleichsam ungezwungen, ganz nach Bedarf.
Auf der anderen Seite ist den Athenern hoch anzurechnen, daß sie jeden Verfassungsbruch unter strenge Strafe stellten.
Die ohne jeden Zweifel größte Leistung der athenischen Demokratie liegt in der Verwirklichung einer Gesellschaft von politisch gleichberechtigten Bürgern. Ein solches Ausmaß an Öffentlichkeit ist bis auf den heutigen Tag nicht wieder erreicht worden und auch nicht mehr zu verwirklichen.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, daß das Initiativrecht bei allen Athenern lag. Jeder Athener konnte nicht nur über die ihm vorgelegten Anträge abstimmen, sondern auch von sich aus einen Antrag einbringen. Der Volksbeschluß ist hier also in einem echten Sinne Wille der Athener.

2.6.3.2. Defizite

a.) Einige für den heutigen demokratischen Staat unentbehrliche Elemente fehlten im Verfassungsplan der athenischen Demokratie: das Repräsentativsystem, die Institutionalisierung der Regierungsfunktionen sowie die Gewaltenteilung. Gerade durch das Fehlen der Gewaltenteilung ergaben sich auch eine Reihe von Nachteilen. So kam es aufgrund der Tatsache, daß z.B. in den Gerichten das Volk saß, zu häufigen Fehlurteilen, keiner empirisch-rationalen Ausbildung des Rechts sowie zu emotionalen Urteilen nach Gutdünken.
b.) Wenn man den tatsächlichen Umfang des Personenkreises (demokratische Masse) darstellen möchte, der letztlich aktiver Träger der Demokratie war, so kommt man auf eine Minderheit von 10.000 Männern über dreißig Jahre (entspricht rund 3 %). Von insgesamt 300.000 Bewohnern Attikas waren 25.000 Metoiken (Fremde), 80.000 Sklaven, 150.000 Frauen. Kinder sowie junge Männer bis dreißig. Von den verbleibenden 45.000 war der größte Teil außerhalb der Stadt und die Bauern blieben zumeist sowieso außen vor, denn ihre Arbeit duldete keine Abwesenheit, andererseits war der Weg in die Stadt oft zu weit.
c.) Letztlich hatte sich die alte Elite wieder durchgesetzt: auch die demokratischen Politiker waren stets Angehörige des alten Adels. Er besaß nach wie vor größere Ressourcen an Zeit und Geld und beherrschte aufgrund einer höheren Bildung eine bessere Rhetorik. Aus diesem Grunde stellte die Nachwelt dem attischen Staat auch alles andere als ein eindeutig positives Urteil aus.
d.) Trotz aller Gesellschaftsentwürfe blieb auch die Gesellschaftsordnung im wesentlichen unverändert. Kein Gedanke auch nur, man könne - oder solle - die Sklaverei abschaffen. Die politische Form der Polis wollte sowieso keiner antasten.
e.) Während im Innern Athen demokratisch war, übte die allerfreieste Stadt der Griechen eine Tyrannis über die andern Städte aus. Aus diesem Grund trug die athenische Demokratie auch bereits den Keim für ihren Zerfall in sich.

3. Schlußfolgerungen

Zunächst ist festzuhalten, daß die Demokratie nicht das Produkt einer politischen Theorie war, sondern der besonderen Umstände der athenischen Geschichte des 6. Und 5. Jahrhunderts.
Athen hat darüber hinaus auch über weite Strecken keine isolierte Entwicklung genommen. Am Anfang stand die Krise der Adelswelt, an der mehr oder weniger alle Griechen Anteil hatten. Die besondere Art und Weise, in der in Athen die Probleme angepackt und zu lösen versucht wurden, ging dann allerdings doch einen anderen Weg als in den übrigen griechischen Städten. Dies hängt u. a. auch mit der Person zusammen, der die Bewältigung der Krise anvertraut wurde: Solon.
Dennoch hat Meier m.E. zu sehr auf die führenden Strategen als die allein Verantwortlichen für den politischen Sonderweg Athens abgestellt. Man hat jedoch heute von der Vorstellung auszugehen, daß ein grundlegender Wandel des politischen Bewußtseins niemals und nirgendwo dem schöpferischen Geist eines staatsmännischen Genies verdankt wird, sondern die Konsequenz eines in aller Regel sehr komplexen Wandels der allgemeinen politischen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen ist, und zumal ein Phänomen wie die Demokratie, die in ihrer einzigartigen Besonderheit einen Umbruch des ganzen politischen Denkens verlangte, nur aus einem vielschichtigen Bedingungsgefüge heraus hervorgegangen sein kann.(26)
Aber es ist sicherlich auch menschlicher Gestaltungswille am Werk gewesen, kein Wille zur Demokratisirung zwar, aber doch ein Wille zur Beteiligung der Menschen am politischen Geschehen.
So ist jedem der erwähnten zentralen Akteure ( Solon, Kleisthenes, Ephialtes, Perikles) ein Anteil an der Entwicklung zur Demokratie zuzurechnen. Aber auch andere trugen entscheidend dazu bei. So trieb sogar die Tyrannis des Peisistratos die Demokratie voran und Leute wie Themistokles legten mit einzelnen Entscheidungen (hier: Flottenbau) den Grundstein für das Aufblühen der Demokratie.
Es darf auch nicht vergessen werden, daß die räumliche Größe Attikas und die Menge seiner Bewohner den Demokratisierungsprozeß mitbestimmt haben.
Im Gegensatz zu anderen politischen Einheiten im Griechenland jener Zeit war Athen zudem eine Stadt. Vor allem ist hier der Name Kleisthenes zu nennen: Er hat es verstanden, die große Landschaft zu einer Polis zu konzentrieren. Ohne die Einheit von Landschaft und Stadt wäre die politische Dynamik der Masse unmöglich gewesen.

Die entscheidende Kraftquelle der politischen Aktivität ist (allerdings) woanders zu suchen; sie gehört schon in die Anfänge der Demokratie; ja sie war der eigentliche Motor für die Entstehung der neuen Verfassung gewesen. Sie liegt in der Entdeckung des Politischen als eines für alle freien Raumes der Betätigung, und sie war deswegen eine weit in die Zukunft wirkende Kraft, weil zugleich mit ihr sich ein ungeahnter politischer Erfolg einstellte: der Sieg über die Perser bei Marathon, die Überwindung sogar des Großkönigs bei Salamis und die Schaffung des gewaltigen Seebundes, der größten Staatengemeinschaft, welche die Griechen je sahen.(27) Das daraus resultierende kollektives Selbstbewußtsein begegnet uns in der griechischen Antike sonst nur noch in Sparta in so ausgeprägter Form.
Hieraus ergeb sich auch erst ein neuer Spielraum: Durch die Finanzen des Seebundes konnten Diäten gezahlt werden, wodurch die Vermassung der Politik erst möglich wurde.
Abschließend möchte ich die Frage Meiers Athen: Ein Neubeginn der Weltgeschichte? Mit einem eindeutigen Ja beantworten. Die Entscheidung aber, ob die Demokratisierung in Athen ein zielgerichteter Prozeß oder nur eine Kette historischer Stationen war, kann so nicht getroffen werden: Für die Zielgerichtetheit fehlte die politische+- Theorie, aber eine - scheinbar zufällige - Aneinanderkettung von Ereignissen schließt sich allein durch die bewußt handelnden Akteure aus. So ist m.E. die politische Entwicklung im klassischen Athen eine durch Empirie und Intervention kanalisierte Zwangsläufigkeit.

Anmerkungen:

(1) vgl. Bleicken, Jochen. Die athenische Demokratie. S. 24
(2) Heuss, Alfred. Hellas. S. 163.
(3) nach ebd. S. 165.
(4) Heuss, Alfred. a.a.O. S. 166.
(5) Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 27.
(6) Aus neun Archonten bestand das höchste Regierungsgremium Athens.
(7) Heuss, Alfred. a.a.O. S. 171.
(8) vgl. Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 29.
(9) ebd. S. 20.
(10) vgl. Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 39.
(11) Heuss, Alfred. a.a.O. S. 239.
(12) ebd. S. 240.
(13) Meier, Christian. Athen: Ein Neubeginn der Weltgeschichte. S. 308.
(14) Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 61.
(15) vgl. Meier, Christian. a.a.O. S. 343.
(16) Meier, Christian. a.a.O. S. 333.
(17) ebd. S. 359.
(18) ebd. S. 387.
(19) vgl. ebd. S. 388 f.
(20) Meier, Christian. a.a.O. S. 423.
(21) Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 274.
(22) vgl. Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 312.
(23) vgl. ebd. S. 462.
(24) vgl. ebd. S. 464.
(25) vgl, ebd. S. 477.
(26) Bleicken, Jochen. a.a.O. S. 20.
(27) ebd. S. 396.

Literaturverzeichnis

Bleicken, Jochen. Die athenische Demokratie. Paderborn u.a.: Schöningh, 1994 (2. Aufl.)

Heuß, Alfred. Hellas. In: Mann, Golo; Heuß, Alfred (Hg.). Propyläen Weltgeschichte. Dritter Band. Griechenland - Die hellenistische Welt, S. 69 - 400.

Meier, Christian. Athen: Ein Neubeginn der Weltgeschichte. Berlin: Siedler, 1993.


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